Im Vergleich zu manch anderer europäischen Hauptstadt kommt Berlin in der Regel noch glimpflich davon, was die Zahl und die Ausmaße von politischen Demonstrationen angeht. Ende August 2020 kam es aber zu einer solchen, an deren Ende ein versuchter Sturm auf den Reichstag stand. Eine obskure Melange aus Nazis und Impfgegnern, aus Reichsbürgern und Esoterikern und aus QAnon-Anhängern und Hippies hatte sich für eine Anti-Corona-Demo zusammengefunden, die zumindest scheinbar eins einte: Ihr Protest gegen Maßnahmen wegen der Corona-Pandemie. Viele Politiker zeigten sich bestürzt über diesen „Angriff auf das Herz der Demokratie“, wie Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier die Vorgänge bezeichnete. Doch die Frage bleibt offen, wie jeder Einzelne und wie die Republik mit dieser neuen Vermischung von Demokratiefeinden umgehen sollte.

Rechte hatten schon vorher intensiv für Anti-Corona-Demo geworben

Dabei wäre es zunächst beinahe nicht zu diesem Aufmarsch von Aktivisten aus der ganzen Republik in Berlin gekommen. Der dortige Innensenator hatte die Demonstration verboten, da er sowohl eine erwartbare Missachtung der Hygienemaßnahmen als auch eine Überforderung der Polizei heraufziehen sah. Zumal für jeden völlig offensichtlich gewesen war, welche Klientel an jenem Samstag in Berlin zu erwarten gewesen war. Rechtsextreme hatten völlig offen auf ihren Kanälen für die Teilnahme an dieser Demo in Berlin getrommelt und sich dort eine äußerst willkommene Bühne schaffen wollen.

Proteste hagelte es im Vorfeld dann aber nicht gegen diese drohende Einnahme bei der Anti-Corona-Demo von Teilen der Stadt Berlin durch Rechtsextreme, sondern gegen die Einschränkung des Demonstrationsrechts. Weshalb schließlich auch gleich zweifach gerichtlich anders entschieden wurde. Die Demonstration wurde erlaubt und tauchte die Republik in einen bizarren Regenbogen aus allen Farben und etlichen Spektren, den man in dieser Form wohl noch nie gesehen hatte.

Fehlende Abgrenzung vieler vermeintlich Nicht-Rechtsextremer

Teilnehmer waren Menschen beinahe jeglicher Couleur. Neben tatsächlich vielen Rechtsextremen, Antisemiten und Verschwörungstheoretikern, die aber bei Weitem nicht die Mehrheit stellten, liefen eben auch Friedensaktivisten und Lehrergruppierungen mit. Scheinbar Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, wenn auch politisch offenbar eher nicht. Ob es kognitive Dissonanz war oder schlicht Gleichgültigkeit: Dass sie zusammen mit offen erkennbaren Nazis, die die Reichskriegsflagge schwenkten, auf einer Demonstration mitliefen, störte beinahe ausnahmslos alle der übrigen Teilnehmer nicht. Es wäre nämlich ein Leichtes gewesen, sich zeitgleich stattfindenden Demonstrationen gegen den Aufmarsch der Nazis anzuschließen.

Stattdessen kommunizierten so unterschiedliche Teile der Bevölkerung ihre Ignoranz gegenüber einer doch gerade in Deutschland eigentlich erforderlichen Distanzierung von den rechten Spießgesellen, dass nach dieser einschneidenden Demonstration in Berlin die Frage gestellt werden muss: Würden diese Menschen auch in politischen Entscheidungen lieber rechtes Gedankengut tolerieren, gar mittragen, statt sich zu einer demokratischen und offenen Gesellschaft zu bekennen? Mögen auch noch so viele von ihnen Botschaften der Liebe und des Miteinanders bei dieser Anti-Corona-Demo zur Schau getragen haben. Dass ihre Kompagnons an diesem schwarzen Tag der deutschen Demokratie alles andere als Liebe und Frieden im Sinne haben, hat bei ihnen weder Berührungsängste noch ein Bedürfnis nach Distanzierung bewirkt.

Konsequenzen für den Umgang?

Die Republik verändert haben die Vorfälle am Reichstag langfristig wohl erstmal nicht. Schließlich zeigte sich auch, dass eine meist besonnen vorgehende Polizei Auseinandersetzungen in größerem Ausmaß verhindern und dennoch aktiv handeln konnte. Der Vorfall auf den Stufen des Reichstags dauerte zudem auch nur einige wenige Minuten, ehe er wieder aufgelöst werden konnte. Und auch, wenn die Zahl der Teilnehmer an jener obskuren Demonstration insgesamt groß erschien, waren es doch nur 0,04 Prozent aller Deutschen, die dort teilnahmen.

Entscheidender ist, dass die Augen geöffnet wurden, welch seltsame Verwirrung in den Köpfen so manches Bundesbürgers zu finden ist – und dass diese auch keine Berührungsängste mit Mitmarschierern von ganz Rechtsaußen haben. Noch geht von dieser immer noch geringen Zahl an Demokratiefeinden keine substanzielle Gefahr für diese aus. Doch in Zeiten von sozialen Medien wächst ihre Vernetzung an, offenbar kommen für bestimmte Themen auch gerne mal solch krude Allianzen wie bei jener Demonstration zusammen. Das ist keine Glut, die man dauerhaft glimmen lassen sollte, will man ein weiteres zahlenmäßiges Anwachsen solcher Aktivisten der unterschiedlichsten Motivationen, aber mit einem gemeinsamen Gegner geschehen lassen.

Dafür haben die Vorfälle der Anti-Corona-Demo am 29. August 2020 in Berlin doch ein zu klares Bild gezeichnet, wie es um die politische Einstellung, Ignoranz und mangelnde Abgrenzung einer Vielzahl der Protestierenden an jenem Tag bestellt ist und wohl weiterhin sein wird.